PM 11.04.2025: Koalitionsvertrag betont Diversität, doch queere Jugendangebote werden gekürzt. Der bkj fordert konsequente Umsetzung der Schutzversprechen!
PM 11.04.2025 Koalitionsvertrag Queerness-rev.
Koalitionsvertrag betont Diversität, doch queere Jugendangebote werden gekürzt. Der bkj fordert konsequente Umsetzung der Schutzversprechen!
Berlin, 09. April 2025. Der Bundesverband für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie e.V. (bkj) begrüßt die im Koalitionsvertrag enthaltenen Zielsetzungen einer geschlechts- und diversitätssensiblen Gesundheitsversorgung sowie den Schutz queerer Menschen vor Diskriminierung. Doch zwischen Anspruch und Realität klaffen erhebliche Lücken – sowohl in Bezug auf gesetzgeberische Vorhaben als auch auf die tatsächliche Versorgungslage vor Ort.
Ambitionierte Ziele ohne strukturelle Absicherung
Wichtige Ankündigungen wie der barrierefreie Ausbau des Gesundheitswesens und die geschlechtssensible Ausrichtung medizinischer Versorgung sind grundsätzlich zu begrüßen. Doch gleichzeitig geraten queere Jugend- und Beratungsangebote auf Landes- und kommunaler Ebene zunehmend unter finanziellen Druck. In mehreren Bundesländern werden Mittel gekürzt oder bereits bestehende Förderzusagen zurückgenommen – ausgerechnet bei den Einrichtungen, die für junge queere Menschen zentrale psychosoziale Anlaufstellen darstellen. Diese Beratungsstellen, Jugendgruppen und Peer-Projekte leisten täglich einen unverzichtbaren Beitrag zur psychischen Stabilität, Resilienz und Selbstbestimmung junger Menschen, die oft mit familiärer Ablehnung, schulischer Ausgrenzung oder gesellschaftlicher Stigmatisierung konfrontiert sind. Kürzungen in diesem Bereich verschärfen bestehende Versorgungslücken – mit gravierenden Folgen für die psychische Gesundheit und Teilhabe der Betroffenen.
Ergänzend dazu betont die S2k-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz bei Kindern und Jugendlichen die zentrale Bedeutung einer integrativen psychotherapeutischen Unterstützung. Dabei wird hervorgehoben, dass psychotherapeutische Prozessbegleitung nicht als zwingende Vorbedingung, sondern als ein niedrigschwelliges Angebot verstanden werden sollte, das individuell an die Bedürfnisse der jungen Menschen angepasst ist. Mit einem affirmativen Ansatz soll die psychotherapeutische Begleitung nachhaltig persönliche und gesundheitliche Entwicklung unterstützen. Umso dringlicher gilt es, bestehende Angebote zu sichern und auszubauen, statt sie durch finanzielle Kürzungen zu gefährden.
Evaluation des Selbstbestimmungsgesetzes (SBGG): Problematische Schwerpunktsetzung
Besondere Sorge bereitet dem bkj die im Koalitionsvertrag vorgesehene Evaluation des Selbstbestimmungsgesetzes. Zwar ist eine wissenschaftlich fundierte Überprüfung sinnvoll, doch die gewählte Schwerpunktsetzung, insbesondere die Prüfung von „Fristsetzungen zum Wechsel des Geschlechtseintrags“ und der „Schutz von Frauen“ – suggeriert, dass trans* Rechte mit dem Schutz anderer Gruppen in Konflikt stünden, ein Narrativ, das wissenschaftlich unbegründet ist. Als Fachverband warnt der bkj vor der Normalisierung solcher Narrative im politischen Raum. Unter dem Deckmantel des Schutzes werden damit Ängste geschürt und die Legitimität geschlechtlicher Selbstbestimmung infrage gestellt. Aus kinder- und jugendlichenpsychotherapeutischer Sicht stellt das Selbstbestimmungsgesetz einen wichtigen Beitrag zur Entpathologisierung und gesellschaftlichen Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt dar. Für trans* und nichtbinäre Kinder und Jugendliche bedeutet die Möglichkeit, Namen und Geschlechtseintrag ihrer gelebten Identität anzupassen, eine massive Entlastung – nicht nur emotional, sondern auch im schulischen und sozialen Alltag. Das gilt insbesondere dafür, wenn dies im Alltag bereits erprobt wurde, sofern die Lebensrealitäten dies zulassen. Die psychotherapeutische Arbeit zeigt deutlich: Die Möglichkeit, als in der eigenen Identität anerkannt zu werden, trägt zur psychischen Stabilisierung bei, fördert Selbstwert und reduziert belastende Faktoren wie Scham, Angst und Depression. Die Erfahrungen aus der Praxis belegen zudem, dass ein affirmativer Umgang mit geschlechtlicher Identität nicht zu Verunsicherung oder „Übereilung“ führt – sondern jungen Menschen hilft, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, Beziehungen zu gestalten und langfristig psychisch gesund zu bleiben.
Eine sachgerechte Evaluation des SBGG muss die Perspektiven und Bedarfe von trans*, inter* und nichtbinären junger Menschen ernst nehmen und sollte tatsächliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und soziale Teilhabe unter Einbezug fachlich-partizipativer Expertise aus Medizin, Psychotherapie, Pädagogik und der Community selbst untersuchen.
Versäumte Reform des Abstammungsrechts – ein Rückschritt auf Kosten der Kinder
Besonders enttäuschend ist aus Sicht des bkj, dass der Koalitionsvertrag keine Weiterentwicklung des Abstammungsrechts vorsieht. Damit bleibt die dringend notwendige rechtliche Absicherung von Zwei-Mütter- oder Zwei-Väter-Familien sowie die Anerkennung trans* Eltern entsprechend ihres gelebten Geschlechts weiterhin aus. Diese rechtliche Leerstelle erzeugt Unsicherheit – vor allem für die betroffenen Kinder. Sie sind es, die im Alltag leiden: bei der medizinischen Versorgung, in der Kita oder bei Behördenkontakten.
Unsere Forderungen:
- Stabile Finanzierung und Ausbau queersensibler psychosozialer Angebote für Kinder und Jugendliche
- Ablehnung populistischer Verzerrungen im Rahmen der Evaluation des SBGG – Fokus auf empirische Evidenz und Lebensrealitäten junger Menschen
- Nachholung der versäumten Reform des Abstammungsrechts zum Schutz und zur Gleichstellung queerer Familien
Fazit:
Der Schutz queerer junger Menschen darf kein bloßes Lippenbekenntnis bleiben. Wer Vielfalt als gesellschaftlichen Wert anerkennt, muss auch bereit sein, in die strukturellen Grundlagen dafür zu investieren. Die Bundesregierung ist in der Pflicht, nicht nur Symbolpolitik zu betreiben, sondern reale Verbesserungen in der psychosozialen Versorgung queerer Kinder und Jugendlicher auf den Weg zu bringen – und bestehende Versorgungsstrukturen zu schützen, statt sie auszuhöhlen.
Für Rückfragen:
Philipp Julian Dausmann, M.Sc., PiA-Vertretung im Vorstand, piavertretung@bkj-ev.de
Stephan Osten, M.Sc., stellvertretender Vorsitzender, osten@bkj-ev.de