Stellungnahme des bkj zum Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP: „Prävention stärken – Kinder mit psychisch oder suchtkranken Eltern unterstützen“
Einleitung
Der Bundesverband für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (bkj) begrüßt den vorliegenden Antrag, der die besondere Belastung von Kindern mit psychisch und/oder suchtkranken Eltern adressiert. Diese Familiensysteme resp. diese Kinder stellen eine besonders vulnerable Gruppe dar, die von vielfältigen psychosozialen und gesundheitlichen Risiken betroffen sind. Es ist von großer Bedeutung, dass deren Bedarfe und Bedürfnisse verstärkt in den Fokus der gesundheitspolitischen Bemühungen rücken. Seit der Veröffentlichung des Abschlussberichtes der Interministerielle Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ im Februar 2023, an der unsere Vorsitzende Dr. Inés Brock-Harder mitgewirkt hat, wissen wir zudem, dass es vielfältiger Maßnahmen bedarf, die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen insbesondere nach den Belastungen der Pandemie zu verbessern („Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“, 2023). Mit Bedauern nehmen wir zur Kenntnis, dass von den präzisen und guten Handlungsempfehlungen nur wenige umgesetzt worden sind. Zusammengefasst lässt sich konstatieren, dass die Faktenlage zur Bestandsaufnahme klar ist und es nun dringend um die Stärkung der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen geht, dazu ist der vorliegende Antrag als ein wichtiges Instrument zu betrachten.
Bewertung der im Antrag angesprochenen Problemlagen
1. Belastung von Kindern psychisch oder suchtkranker Eltern:
• In Deutschland leben drei bis vier Millionen Kinder mit mindestens einem psychisch erkrankten Elternteil. Diese Elternteile sind häufig u.a. in ihren elterlichen Kompetenzen, in der Wahrnehmung und Versorgung kindlicher Bedürfnisse eingeschränkt.
• Hinzu kommen mögliche soziökonomische und soziokulturelle Belastungen wie beispielsweise ein niedriger Ausbildungsstand, instabile Beziehungen oder Konflikte, die bis hin zu Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch reichen können.
Diese Faktoren gefährden, auch pränatal, die altersgerechte körperliche und psychische Entwicklung von Kindern erheblich. Die Wahrscheinlichkeit, selbst psychisch zu erkranken, steigt für diese Kinder stark an - insgesamt 20 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland leiden an einer psychischen Störung (UKE - Child Public Health - COPSY-Studie (COrona und PSYche), 2024).
• Auch die allgemeine Gesundheitskompetenz junger Menschen ist gering. Hinzu kommen beispielsweise 15 % adipöse Kinder (Stiftung Kindergesundheit, 2024), 27 % berichten von einer geringen Lebensqualität und 20 % geben an, ein niedriges schulisches Wohlbefinden zu erleben (Robert Bosch Stiftung, 2024). Ein wahrgenommener Dauerkrisenzustand (u.a. Finanzen, Klima, Pandemie, Kriege) und Gewalt an Schulen verschärfen diese Situationen.
2. Bürokratische und strukturelle Hürden:
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Der bkj begrüßt die Forderung nach einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren beispielsweise der Frühen Hilfen, der Jugendhilfe, den Schulen, dem Gesundheitswesen und weiteren (Sozialleistungs-)Trägern (Grundlagen über das Bundeskinderschutzgesetz i.V.m. KKG 2012a, und SGB VIII 2022b). Gerade die Fragmentierung der Zuständigkeiten erschwert eine wirksame Unterstützung betroffener Familien. Da dies jedoch hauptsächlich in der Zuständigkeit der Kommunen liegt, haben wir an dieser Stelle in Deutschland keine gleichwertigen Lebensverhältnisse - was dem Grundgesetz widerspricht -, da die Spreizung der finanziellen Ausstattung immens ist. Kommunen mit auskömmlicher Finanzausstattung haben größere Handlungsspielräume als Kommunen in der Konsolidierung oder gar unter Haushaltssperre.
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Deshalb besteht die Notwendigkeit rechtskreisübergreifender Finanzierungsmodelle und einer Koordinierung von Leistungen. Diesen zentralen Ansatzpunkt unterstützt der bkj nachdrücklich.
Empfehlungen und Prioritäten aus Sicht des bkj
1. Frühe Hilfen ausbauen und langfristig sichern:
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Eine dauerhafte Erhöhung der Mittel für die Frühen Hilfen ist essenziell. Der Ausbau von Lotsendiensten und die Entwicklung verlässlicher Übergangskonzepte, etwa zwischen Frühen Hilfen und weiteren familienorientierten Angeboten, sollten prioritär behandelt werden.
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Es muss sichergestellt werden, dass Hilfen auch über das dritte Lebensjahr hinaus koordiniert und finanziert werden. Ein Übergang in den Kita- und Schulbereich erscheint dringend notwendig.
2. Familienorientierte Ansätze verstärken:
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Der bkj plädiert für eine breite Implementierung von Eltern-Kind-Behandlungseinheiten im psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungsbereich. Diese ermöglichen eine parallele Behandlung der Eltern und Kinder, verbessern die Eltern-Kind-Interaktion und beugen langfristigen Folgeschäden vor.
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Multiprofessionelle und qualifizierte Hilfesysteme sollten örtlich etabliert und wissenschaftlich begleitet werden.
3. Zugänglichkeit und Entstigmatisierung:
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Der bkj unterstützt die Einführung/Fortführung langfristiger Entstigmatisierungskampagnen, um Vorurteile gegenüber psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern abzubauen. Bundländereinheitliche Bildungs- und Aufklärungsarbeit in Kitas, Schulen und öffentlichen Einrichtungen ist hier zentral.
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Der niedrigschwellige Zugang zu Hilfsangeboten muss weiter gefördert werden.
4. Forschung und Evaluation:
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Der bkj begrüßt die geplanten systematischen Evaluierungen von Modellen wie den Frühen Hilfen und fordert, dass die Bedürfnisse betroffener Kinder und ihrer Familien hierbei stärker in den Mittelpunkt gestellt werden. Dazu sollten auch adäquate Beteiligungsformate für die Kinder und Jugendlichen etabliert werden.
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Die Weiterentwicklung bestehender Angebote und das Entwickeln neuer Instrumente zur (internationalen) Vergleichbarkeit familienorientierter Angebote sollte forciert werden, um die Wirksamkeit bestehender Ansätze zu sichern und weiterzuentwickeln.
5. Stärkung der Netzwerkarbeit:
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Gute (regionale) Modellprojekte müssen erkannt, verstetigt, ausgeweitet und finanziert werden (siehe auch Nationales Zentrum Frühe Hilfen, 2024).
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Netzwerkarbeit und Kooperationen können nicht beiläufig gelingen, sondern erfordern zeitliche und finanzielle Ressourcen. Insbesondere die ambulante Versorgung mit Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist in vielen Regionen der Bundesrepublik nicht bedarfsdeckend. Aufgrund weiter Anfahrtswege im ländlichen Raum können deshalb niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen auch kaum persönlich im sozialen Nahraum der Patient*innen kooperieren. Außerhalb der Komplexversorgung wird dies auch nicht honoriert.
6. Stärkung der Psychotherapie:
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Für die Umsetzung der Handlungsempfehlungen sind zudem ausreichende personelle Kapazitäten notwendig. In Deutschland gibt es derzeit rund 57.000 Psychotherapeut:innen, von denen etwa 10.800 über 65 Jahre alt sind und ein Ausscheiden aus dem Berufsleben zeitnah bevorsteht. Das Verhältnis zwischen Psychologischen Psychotherapeut:innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen beträgt 4:1, und der Anteil der Teilzeitbeschäftigten liegt zwischen 40 und 50 Prozent (Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), 2024).
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Nachwuchssorgen bestehen v.a. deshalb, weil derzeitig die Finanzierung der Weiterbildung zu Fachpsychotherapeut*innen nicht abschließend geklärt ist.
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Eine zeitgemäße Bedarfsplanung für die Versorgungsplanung und notwendiger Ausgabe von sog. „Kassensitzen“ für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist dringend notwendig. Dies würde auch die Kinder- und Jugendärzte entlasten, die bisher die langen Wartezeiten überbrücken müssen und oft nicht wissen, wohin sie Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen oder psychisch erkrankten Eltern überweisen sollen.
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Eine angemessene tätigkeitsbezogene Vergütung (Psychotherapie, Elternarbeit, Arbeit in den lebensweltrelevanten Systemen wie Schule und Jugendamt und Netzwerkarbeit) muss etabliert werden.
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Die sog. KJHG-Psychotherapie kann hier eine Ergänzende nationale Struktur darstellen (vgl. Psychotherapeutenkammer Berlin, 2024).
7. Rolle der Schule:
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Psychotherapie als Gesundheitsbehandlung sollte nicht in Schulen stattfinden. Der sichere Rahmen und eine Einhaltung von Schweigepflicht sind hier nicht gegeben.
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Stattdessen sollten dort Schulpsycholog*nnen (mit einem bedarfsgerechten deutlich geringerem Schüler*innenschlüssel), Mental Health Coaches und Gesundheitsfachkräfte tätig sein, die in die Unterrichts- und Lebensortgestaltung sowie in die Lehrerweiterbildung und Beratung eingebunden werden können.
Fazit
Der bkj unterstützt die im Antrag enthaltenen Maßnahmen, fordert jedoch eine konsequente Umsetzung der Handlungsempfehlungen unter Berücksichtigung der Bedürfnisse von betroffenen Kindern und Familien. Frühe und umfassende Interventionen sind entscheidend, um langfristige psychosoziale und wirtschaftliche Folgekosten zu vermeiden. Der bkj steht bereit, die Umsetzung durch seine Expertise und Erfahrung zu unterstützen.