Rezensionen

Kinder brauchen Flügel, keine Helikopter!


Gelesen von Dr.in Inés Brock-Harder

Mit hohen Erwartungen griff ich zu dem Buch unter dem vielversprechenden Titel Helikoptern über Kindern zu vermeiden. Dieser Erziehungsratgeber kommt jedoch sehr hochschwellig daher mit 350 eng bedruckten Seiten und erscheint auch im Schreibstil nur akademisch gebildete und sehr motivierte Eltern – insbesondere erfahrungsgemäß Mütter – anzusprechen. Im Gestus durchaus ansprechend – aber sehr amerikanisch überbordend – geschrieben, überzeugt vor allem die wissenschaftliche Fundierung und die gründliche Bezugnahme auf psychologische Konstrukte. Der plakative Klappentext impliziert zunächst was Eltern alles falsch machen (können). Ich teile aus fachlicher Sicht durchaus das Anliegen vom Kontrollieren der Kinder und ihnen alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen hin zu einem autonomiefördernden Erziehungshandeln zu kommen, dennoch steht die Frage im Raum, braucht es dafür einen neuen Erziehungsstil mit einem neuen englischen Begriff.

Nach Attachment-Parenting und bedürfnisorientierter oder artgerechter Erziehung nun also Autonomy-Supportive-Parenting?

Die Autorin nimmt sich viel vor, in den 15 Kapiteln vertieft sie verschiedene Themenkomplexe, wie z.B. „Die innere Welt“, „Die Schule“ und für uns besonders interessant: „Psychische Gesundheit und Autonomie-fördernde Erziehung“. Auch Neurodi­versität wird besprochen. Besonders zeitgemäß ist das Kapitel über „Digitales Leben“. In fast jedem Themenfeld wird spezifisch auf einzelne Altersgruppen eingegangen, was ein gezielteres Lesen ermöglicht.

Der elterliche Wunsch seine Kinder zu beschützen führe häufig zu einer Angst, die Kontrolle und Überwachung zur Folge haben, dies behindere die Kinder Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu entwickeln, Eigenständigkeit zu lernen und eine ausgeprägtere Selbstwahrnehmung zu zeigen. Soweit - so richtig! Das Buch ermutigt zurecht eine eigene Form der autonomiefördernden Erziehung zu finden, macht dann aber an Beispielen orientiert doch wieder deutlich, dass es ein Richtig und Falsch gibt, was gerade bei selbstreflexiv Erziehenden zu einem Perfektionsanspruch führen kann, der dann nur enttäuscht werden kann, denn Eltern sind eben auch nur Menschen mit Stärken und Schwächen und eigenen Grenzen. (P.S.: Deshalb gefiel mir ein Titel eines anderen Buches: Meine Grenze ist dein Halt) Und was heißt eigentlich erfolgreich erziehen und woran misst sich das?

Die Orientierung an drei psychischen Grundbedürfnissen: Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit vertieft die fachliche Expertise der Autorin, an der sie sich im Text orientiert. Sie gibt Top-Ten Handwerkszeuge bekannt, die dadurch einen Aufforderungscharakter wie Gebote bekommen.

Wenn auf S. 61 ein Kontrollkontinuum dargestellt wird, nachdem sich die Autonomieförderung zwischen „kontrollgesteuert“ und „permissiv“ einordnet, wird man an die „Freiheit in Grenzen“ Erziehung von Klaus Schneewind aus Deutschland in den 2010er Jahren erinnert. Auch da gehe ich inhaltlich durchaus mit. Im weiteren Verlauf des Buches wird aber immer nur „kontrollbasiert“ und „autonomiefördernd“ tabellarisch gegenüber gestellt - und zwar so plakativ, dass keine Leser*in sich im kontrollbasierten Stil wiederfinden würde: Die Bösen sind eben immer die anderen!

Eine Stärke des Buches sind die vielen lebensnahen Beispiele, an denen die Theorie gemessen werden kann, und die konkreten Handlungsleitfäden für bestimmte konfliktbeladene Alltagssituationen. Für Fachkräfte kann es durchaus soliden fachlichen und wissenschaftlichen Hintergrund liefern, wie man z.B. manche psychoedukativen Empfehlungen an die Eltern formulieren und begründen kann.

Gegenwärtigen Eltern würde ich gerne zurufen: Lest nicht so viel, wie ihr es zu machen habt, vertraut eurer Intuition und gestattet euch Schwächen - Kinder werden euch lieben, auch wenn ihr nicht perfekt seid, denn es reicht aus, wenn jede dritte Interaktion gelingt. Dieses Repair-Verhältnis ist ausreichend um seelisch gesunde Kinder großzuziehen - auch ohne an ihnen zu ziehen.

Autorin: Emily Edlynn
Mankau Verlag 2024, 355 Seiten
ISBN 978-3-86374-731-2