Generation Angst – Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit auf Spiel setzen

Gelesen von Dr.in Inés Brock-Harder
Warum eine Rezension im Mitgliederrundbrief zu einem Spiegel-Bestseller? „Generation Angst. Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen.“ zieht die Leserin in einen Sog, der mit einem ausführlichen und differenzierten Problemaufriss beginnt. Auch wenn sich die Zahlen, die als Belege herangezogen werden, auf die USA beziehen, ist die Situation in Bezug auf die Nutzung sozialer Medien, die Verweildauer im Internet, die Gaming Disorder und vieles andere durchaus auf Deutschland übertragbar. Auch hier gibt es belastbare Zahlen, dass problematische Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen in der Pandemie angestiegen und kaum wieder gesunken ist. Besonders dramatisch werden die Folgen für die psychische Gesundheit seit der Einkehr der Smartphones beschrieben. Ebenso seien kognitive Leistungen gesunken. Haidts Grundhypothese, dass die Abkehr von der spielbasierten Kindheit sich störend auf die Entwicklung auswirkt, wird mit vielen Beispielen und Zusammenhängen illustriert. Er wirbt für ein Smartphoneverbot an Schulen, mehr Pausen und Zeit zum freien Spiel, weil dies nicht nur die Gesundheit und Konzentration fördere, sondern auch soziale und emotionale Kompetenzen stärke. Hinzu kommt noch ein zusätzliches Argument, dass sich an Eltern richtet, den Kindern zuzutrauen in die Welt zu gehen und die Kultur der Angst zu durchbrechen, indem Kinder nicht zu sehr bewacht und überwacht werden.
Wir Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen erhalten in dem Buch auch Hinweise um problematisches Verhalten bei der Internetnutzung zu identifizieren. Empfehlenswert ist das Buch auch deshalb, weil es einen umfangreichen Teil von Handlungsempfehlungen für Eltern, Schulen und Gesellschaft enthält. Erfrischend ist auch die deutliche Differenzierung zwischen Mädchen und Jungen, die unterschiedliche Nutzungsgewohnheiten und dementsprechende Risiken haben. Schon mal gehört, Jungen stärker zu HEAL-Berufen zu lenken und nicht nur die Mädchen in die MINT-Berufe? HEAL bedeutet: Health, Education, Administration, Literacy – also Gesundheit, Bildung, Verwaltung und Schriftwesen/Kommunikation.
Für den eiligen Leser endet jedes Kapitel mit einer Zusammenfassung, in der man alle wichtigen Fakten findet.
Eine persönliche Bemerkung zum Schluss: Wenn unsere jugendlichen Patienten Partner*innen im Internet daten anstatt sie im realen Leben zu finden und wenn Eltern bereits Babys mit dem Smartphone vor den Augen beruhigen, dann ist es höchste Zeit für kollektive und individuelle Lösungen. Auch wenn Haidts Forderung ein Smartphone nicht vor dem 16. Lebensjahr zu erlauben, utopisch klingt, das Smartphone in der Schulzeit einzuschließen könnte ohne große Investitionskosten sehr schnell sowohl Leistungen als auch soziale Interaktion fördern: Spiel und Bewegung mit den Gleichaltrigen anstatt im Netz zu surfen. Mich hat die Argumentation überzeugt, weil wir tatsächlich die Kinder sonst in die virtuelle Welt verlieren.
Autor: Jonathan Haidt
Übersetzerin: Monika Niehaus-Osterloh
Übersetzer Jorunn Wissmann
Rowohlt Buchverlag
1. Auflage 2024, 448 Seiten
ISBN 978-3-49802836-7