Rezensionen

Die Hungerwolke – Ein Kinderfachbuch für Essanfälle


Gelesen von Michael Becker

Die 7-jährige Mona erfährt in der Schule viel Ablehnung ihrer Klassenkamerad*innen, zu Hause fühlt sie sich von ihrer Mutter unverstanden, von ihrer Schwester ungeliebt, ihr Vater kommt kaum zu Besuch, dass er nicht mehr bei ihnen lebt, versteht sie nicht und vermisst ihn schier endlos. Sie glaubt, sie macht immer etwas falsch und ist nicht richtig, wie sie ist. Mit ihren Gedanken und Gefühlen ist sie sehr einsam. Das Einzige, was sie tröstet, ist Essen, am liebsten Süßes. Zum Beispiel den riesigen Schokoladenkuchen, den sie zum Geburtstag bekommen hat: als sie ein zweites Stück essen möchte, bricht ein Streit zwi­schen den Eltern los, ob sie nicht dick wer­de. Mona beginnt heimlich zu essen, das tut gut, alles ist wie in Watte gepackt, alles ist erträglicher; aber sie kann erst aufhören, wenn ihr Bauch schmerzt, dann setzt der Regen ein, Scham, Schuld und Einsamkeit kommen über sie. Die Hungerwolke wird immer mächtiger, begleitet Mona jeden Tag und verspricht Linderung ihrer Sorgen. Sorgen macht sich auch ihre Mutter ob ihrer Gewichtszunahme, leider zieht sie die falschen Schlüsse daraus… Ihre Lehrerin bemerkt, wie es Mona geht. Das markiert den Wendepunkt in Monas bisherigem Leben. Sie hilft Mona sich zu äußern und zeigt Verständnis und Zuneigung. Sie hilft Mona mit ihrer Mutter ins Gespräch zu kommen.

Ich finde es unglaublich wertvoll, dass es im Leben aufmerksame Menschen wie diese Lehrerin gibt, die merken, dass etwas mit jungen Menschen nicht stimmt und nachfragen. Vielleicht sind das nicht die engsten Vertrauten oder die eigene Familie, sondern eine Bekannte oder ein Kollege. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es manchmal leichter ist sich mitzuteilen, weil sie oder er und auch unvoreingenommener sind. Und Gefüh­le der Einsamkeit mit einer kleinen Aufmerksamkeit wie einer Frage durchbrochen werden können. Diese Geschichte steht ex­emplarisch dafür und hat mich sehr bewegt.

Der weitere Wert dieses Buches ist, dass es um ein auch bei Kinder- und Jugendlichentherapeut*innen eher unterschätztes Thema geht: Essanfälle. Die Protagonistin, obwohl sie genau das Gegenteil will, frisst sich Kummerspeck an, weil sie nach Zuneigung und Zugehörigkeit hungert. Nach aktueller Studienlage haben sich in den letzten Jahren die Fallzahlen von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen deutlich erhöht (siehe z.B. DAK- Kinder- und Jugendreport). Im Fachteil wird darauf hingewiesen, dass die Binge-Eating-Disorder die häufigste Essstörung ist, aber das Forschungsinteresse in der Vergangenheit eher gering war.

Sehr ausführlich beschreibt Stefan Hetterich, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Symptomatik, Erleben, Ätiologie und therapeutische Ansätze. Es wirkt erstmal ein bisschen lang, ist aber gut zu lesen und erhellend, mit vielen Verweisen auf Bücher zum Thema, Anlaufstellen und Internetadressen. Nicht unerwähnt möchte ich die Gestaltung lassen: Das große Format hat mich etwas abgeschreckt. Die Illustrationen von Anna-Charlotte Lörzer sind detailreich und wirken etwas unruhig, vielleicht sind sie sogar als Allegorie zu verstehen, denn unruhig ist es in der Geschichte über Mona von Anfang an. Kontrastiert wird es durch die Darstellung der Hungerwolke, sie gibt den Bildern (und Mona) etwas Ruhe, indem sie sie einhüllt und von der Unruhe um sie herum abschirmt.

Ich muss sagen, ich hätte anfangs nicht gedacht, dass mir dieses Buch so gut gefällt. Eine echte Überraschung - ausdrückliche Empfehlung.

Autor*innen: Milena Tebiri/Anna-Charlotte Lörzer/Paula Kuitunen/Stefan Hetterichi
Mabuse-Verlag, geb. 23,00 € (D)
Ab 6 Jahren
Auflage 2022
71 Seiten
21,4x1,3x30,3 cm
ISBN 978-3- 863216245