Interviews

Hildegard Scherpe im Interview vom 24.08.2022: Heimweh hat mit Sicherheit und Bindung zu tun

"Eltern sollten ihrem Kind Kraft und Freude auf Neues vermitteln".

Hildegard Scherpe (bkj) im Gespräch mit Tanja Wessendorf, Kölner Stadtanzeiger

Manche Kinder halten es kaum ein paar Stunden ohne die Eltern aus, andere können problemlos eine Woche oder länger wegfahren, ohne ein einziges Mal an zuhause zu denken. Sie genießen die neuen Erlebnisse und freuen sich über alles, was anders ist.

Es stehen immer wieder Klassenfahrten an, wo sich einige Eltern und die Kinder in Sorge befinden. Gerade nach der langen Pause durch Corona sind viele Kinder verunsichert. Hierzu habe ich letztes Jahr ein Interview für den Kölner Stadtanzeiger gegeben, was ich hier zusammenfassend wiedergebe.

Es geht um die Frage, was ist Heimweh überhaupt? Heimweh hat immer etwas mit Strukturveränderung zu tun. Der fachliche Ausdruck für Heimweh in der Medizin lautet Nostalgia. Heimweh entsteht, wenn ich aus meinem vertrauten Umfeld heraus in einem fremden Umfeld bin und dort nicht zurechtkomme. Wenn Kinder, Jugendliche und Erwachsene sich woanders unwohl und verunsichert fühlen, bekommen sie Heimweh nach dem vertrauten Ort, nach ihrer normalen Umgebung und den vertrauten Ablauf. Es ist ganz unterschiedlich, wann Kinder, Jugendliche oder auch Erwachsene Heimweh bekommen. Es ist von den jeweiligen psychischen Strukturen abhängig. Manche freuen sich über die neuen Erlebnisse und arrangieren sich schnell mit der neuen Umgebung. Sie haben nicht das Gefühl, dass ihnen etwas fehlt. Andere haben große Angst davor, ihr vertrautes Umfeld zu verlassen. Dabei wird Heimweh vor allem mit Kindern in Verbindung gebracht, manche haben sehr starkes Heimweh, anderen ist es völlig egal, von zuhause weg zu sein. Diese Unterschiede entstehen, da Heimweh mit Sicherheit und Bindung zu tun hat. Menschen, die grundsätzlich wenig verunsichert sind und mit Freude und Neugierde auf Veränderung reagieren, haben auch weniger Heimweh. Sie sind in sich sicher. Kinder, die zum Beispiel durch einen längeren Krankenhausaufenthalt von ihren Bezugspersonen getrennt und in der neuen Umgebung auf sich selbst gestellt waren, fühlen sich innerlich oft weniger sicher und es fällt ihnen schwer, mit der Veränderung umzugehen. Es ist dann notwendig, mit dem Kind über diese Verunsicherung zu sprechen. Alle Gefühle müssen dann ernst genommen werden. Ein Gespräch, wie die Übernachtung außer Haus unterstützt werden kann, sollte stattfinden. Die Eltern sollten Angebote machen, ob das Kind die eigene Bettdecke mitnehmen möchte oder welches Kuscheltier wichtig ist. Genauso kann die Frage geklärt werden, das Kind abzuholen, wenn es unbedingt notwendig ist. Es ist wichtig, alle Möglichkeiten offen zu lassen, ein Gespräch mit den Lehrer*innen oder den Begleitpersonen sollte ebenfalls vorher stattfinden. Das Kind sollte wissen, dass es unterwegs eine Ver­trauensperson gibt, an die es sich wenden kann. Bevor die Klassenfahrt stattfindet, können die Eltern schon mit dem Kind daran arbeiten, dass es am Wochenende bei den Großeltern oder bei einem Freund übernachten kann. Eltern sollten ihre Kinder so unterstützen, dass sie in diese Veränderung hineinwachsen. Der nächste Schritt wäre dann die Übernachtung in der Schule.

Oftmals wird die Frage gestellt, ob seit Corona mehr Heimweh und Verunsicherung entstanden ist. Diese Frage lässt sich nur differenziert beantworten, denn Heimweh hat etwas mit dem Erleben von innerer Instabilität und Verunsicherung zu tun. Viele Familien erleben durch Corona und durch den Krieg in der Ukraine mehr Verunsicherungen und Ängste. Dadurch fällt es dem Kind auch schwerer, unbefangen mit der neuen Übernachtungssituation umzugehen. Wie gut sich die Kinder von den Eltern ablösen und neue Abenteuer erleben können, hängt auch davon ab, wie betroffen die Familie von den neuen Krisensituationen ist. Die Aufgabe der Eltern liegt in der Ermutigung, dem Kind die Kraft und die Freude auf das Neue zu vermitteln.

Wenn die Kinder unterwegs sind, sollten die Lehrer*innen und Betreuungspersonen ihre Schüler*innen so gut kennen, dass eine gute Einschätzung möglich ist. Wie heftig ist das Heimweh des Kindes wirklich? Sie sollten zuerst versuchen, das Kind abzulenken. Es hilft, gemeinsam zu rekapitulieren, was alles gut gelaufen ist und wie viel schöne Erlebnisse noch kommen. Dabei ist es auch wichtig, den Plan für den folgenden Tag zu besprechen. Oft wird es einfacher, wenn das Kind eine Struktur in der neuen Umgebung wiedererkennt. Das Problem an Heimweh ist, dass den Kindern der vertraute Ablauf fehlt. Wenn die erste Nacht erst mal geschafft ist und eine Struktur erkennbar wird, schafft es auch die zweite Nacht. Es ist wichtig für jedes Kind, dass es mit auf die Klassenfahrt fährt, auch wenn die Eltern es abends wieder abholen müssen. Auf einer Klassenfahrt entwickelt sich enorm viel in der Gruppe und das Kind kann dann hinterher mit den Anderen darüber sprechen, da es diese Erlebnisse  teilen kann. Wenn es nicht mitfährt, kann es sein, dass es sich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen fühlt.

Zum Schluss kam noch die Frage auf, ob Erwachsene auch Heimweh haben können? Das ist natürlich durchaus möglich. Gerade junge Erwachsene sind oft betroffen, wenn sie zum Beispiel im Ausland studieren wollen. Sie freuen sich sehr auf den neuen Lebensabschnitt, können ihn dann jedoch kaum genießen. Oftmals erkennen sie es nicht als Heimweh. Sie bekommen zum Beispiel Appetitlosigkeit, Panikattacken oder können nicht schlafen. Auch hier ist es wichtig, für sich ein vertrautes Umfeld zu finden, Freunde oder Eltern zu kontaktieren und gemeinsam Lösungen zu finden.