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Sexuelle Übergriffe unter Kindern – Dr. Inés Brock-Harder im Gespräch mit Ronja Fessler

Sexuelle Übergriffe unter Kindern in NRW-Kita – was eine Psychologin Eltern rät - FOCUS online

Ein Kita-Kind soll andere gezwungen haben, Geschlechtsteile zu entblößen oder Gegenstände in Körperöffnungen einzuführen. Viele Eltern sind in Sorge. Was eine Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin rät.

Es sind schockierende Nachrichten, die aus einer Kita in NRW berichtet werden. Ein Junge soll dort, teils mit Hilfe von zwei weiteren Freunden, mehrere Kinder dazu gedrängt haben, ihre Geschlechtsteile zu entblößen, vor anderen zu urinieren oder zu koten sowie sich Gegenstände wie Käfer, Stöcke oder Pflanzen in Penis, Scheide oder Po einzuführen oder einführen zu lassen. Das berichtet die „Rheinische Post“ in einer großen Reportage (Plus-Inhalt).

Viele Eltern sind nun in Sorge. Wie kann es zu solchen Übergriffen kommen?

Unterschied „Doktorspiele“ und sexuelle Übergriffe wie in NRW-Kita

Zunächst einmal sei es für Kleinkinder ganz normal, eine Neugier zu entwickeln - auf den eigenen Körper, dann aber auch auf die Unterschiede, gerade was Genitalien wie Penis oder Vagina betrifft, erklärt die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Inés Brock-Harder gegenüber FOCUS online. „Insofern sind die sogenannten Doktorspiele im Kita-Alter entwicklungspsychologisch ganz normal.“

Diese dürfe man auch in der Kita zulassen, sagt Brock-Harder, die auch Vorsitzende des Bundesverbands für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist. „Übrigens auch den Rückzug der Kinder für dieses Erkunden.“

Dennoch, es gebe einige Grundregeln, die dabei beachtet werden müssen:

  • kein Machtgefälle etwa durch größere Altersunterschiede
  • kein Einführen von Fingern oder Gegenständen
  • gegenseitige, grundsätzliche Zustimmung von allen Seiten

Im Fall aus NRW wurden diese Grundregeln also nicht beachtet. Dennoch würde sie nicht von sexuellem Missbrauch sprechen, betont die Expertin. Das würde man eher mit der pubertären oder erwachsenen Entwicklung in Verbindung bringen. „Missbrauch ist es zum Beispiel dann, wenn ein Altersabstand von vier, fünf Jahren vorliegt und ein älteres Kind seine Macht gegenüber dem jüngeren Kind missbraucht.“ Im Kita-Fall spricht sie von Grenzüberschreitungen und sexuellen Übergriffen.

Wie kann ich mein Kind schützen? Das rät die Psychologin

Doch wie können Eltern ihre Kinder schützen bzw. sicherstellen, dass ihr Kind mit ihnen spricht, wenn entsprechende Vorfälle passieren? Zunächst einmal sei es wichtig, dass „Nein“ Teil des Wortschatzes der Kinder ist, sagt die Expertin. „Sie dürfen ermutigt werden, 'Nein' sagen zu können und zu dürfen.“

Daneben gehe es auch darum, eine sichere Gesprächsatmosphäre zu schaffen - „ohne dass Tabu-Themen existieren“. Es sei eine Gefahr, dass Eltern gerade bei dieser Thematik Berührungsängste haben und sie möglicherweise mit einem geheimnisvollen Schleier überziehen. Denn das würden die Kinder spüren.

Brock-Harder empfiehlt deshalb, offen und selbstverständlich auch über Dinge zu sprechen, die zum Beispiel mit den Genitalien in Verbindung stehen. „Dann ist das für das Kind ein ganz normales Körperteil. Und genauso wie es Zuhause erzählen würde, dass es an den Haaren gezogen oder in den Arm gebissen wurde, würde es dann auch berichten, wenn so eine Art von Übergriff passiert.“

Als Beispielformulierungen für Eltern nennt die Expertin: „Die Mama hat eine Vagina. Du hast einen Penis. Der Papa hat auch einen Penis, der sieht aber anders aus, weil er schon älter ist.“ Oder auch: „Ich möchte gerne alleine auf die Toilette, weil ich da nicht beobachtet werden möchte.“

Wenn mein Kind nicht mit mir spricht, gibt es ggfs. auch nonverbale Warnzeichen, die darauf hindeuten, dass etwas nicht stimmt? „Es gibt kein eindeutiges Warnzeichen, das klar auf sexuelle Übergriffe hindeutet“, sagt die Psychologin. Ein plötzliches Zurückziehen oder auch aggressives Verhalten könne auch andere Ursachen haben - zum Beispiel, dass sie sich von der Erzieherin zurückgesetzt fühlen, Überforderung oder Stress. „Das ist individuell einfach sehr unterschiedlich. In der Regel haben die Eltern da das beste Gespür für ihr Kind.“

Wer unsicher ist, sollte mit den Erzieherinnen und Erziehern sprechen bzw. gegebenenfalls eine Beratungsstelle aufsuchen.

 

Über die Expertin

Dr. Inés Bock-Harder ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin sowie Vorsitzende des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (bkj). Sie ist unter anderem spezialisiert auf die frühe Kindheit sowie kindliche Sexualität. Transparenzhinweis: Bock-Harder ist auch Politikerin (Bündnis 90/ Die Grünen) im Stadtrat von Halle (Saale).

 

Psychologin betont: Kinder können diese Erfahrungen überwinden

Die gute Nachricht: „Alle unangenehmen oder auch schlimmen Erfahrungen, die Kinder machen, können sie ohne bleibende Schäden überwinden“, ist sich die Expertin sicher. Dabei sei es wichtig, dass sie begleitet werden - entweder von einem einfühlsamen Elternhaus oder auch von professionellen Fachkräften.

Das gelte auch für die Erlebnisse in der NRW-Kita. „Auch wenn das grenzüberschreitende Erlebnisse sind, bedeutet das nicht, dass die Kinder ihr Leben lang geschädigt sind.“ Hintergrund ist, dass Menschen Traumata bewältigen können - „wenn wir darüber sprechen, es nicht totschweigen oder abspalten.“ Allerdings: „Man darf die Kinder aber auch nicht bedrängen, alles braucht seine Zeit.“

Brock-Harder würde in diesem ganz konkreten Fall empfehlen, dass alle Kinder - auch das übergriffige Kind - professionelle Hilfe bekommen. „Ich würde in diesem Fall auch nicht von Opfern und Täter sprechen“, sagt sie. „Sondern eher gucken, was ist bei dem ausführenden Kind nicht in Ordnung? Hat es vielleicht ältere Geschwister, bei denen es Pornografie gesehen hat? Kommt es tatsächlich aus einem Elternhaus, das nicht auf die Bedürfnisse achtet? Meist gibt es ein Ursachenbündel, das man in den speziellen Fällen analysieren muss.“

 

„Aufklärung ist der beste Schutz vor Übergriffen“

Jüngst würden die Experten um Brock-Harder tatsächlich beobachten, dass der Einfluss durch ältere Geschwister bzw. konkreter deren Mediennutzung eine stärkere Rolle spielt. „90 Prozent aller Zehnjährigen haben schon einmal Pornografie gesehen“, sagt sie. Wenn die kleineren Geschwister daneben sitzen, könnten sie das natürlich mitbekommen.

Auch hier sei Aufklärung durch die Eltern wichtig, betont sie. Über die Gefahren im Netz, auch sollte den Kindern klar gemacht werden, dass es sich hier nicht um die Wirklichkeit handelt. „Vor allem sollte man als Eltern anbieten, dass Kinder mit ihrer Beunruhigung, ihren Ängsten zu einem kommen können.“ Auch hier gelte der wichtige Satz: „Aufklärung ist der beste Schutz vor Übergriffen und Missbrauch.“