Wenn Kinder anders fühlen – Identität im anderen Geschlecht. Ein Ratgeber

Gelesen von Stephan Osten
Das Buch "Wenn Kinder anders fühlen – Identität im anderen Geschlecht" beleuchtet mit großer Sensibilität und fachlicher Tiefe die Transidentität von Kindern und Jugendlichen. Bereits bei seiner Erstveröffentlichung im Jahr 2008 war eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit geschlechtlicher Vielfalt wahrzunehmen, wobei viele Familien und Fachpersonen jedoch erstmals intensiver mit dem Thema Transidentität konfrontiert wurden. Insbesondere der Geschlechtsinkongruenz/ Geschlechtsdysphorie von Kindern und Jugendlichen. Ursprünglich als Ratgeber für betroffene Familien gedacht, hat sich das Buch – nun in der dritten Auflage – als wertvolle Ressource etabliert, die auch Fachleuten einen ausgezeichneten Einstieg in die Thematik mit fundierten Einblicken und praxisnaher Orientierung bietet.
In neun Kapiteln und einem hilfreichen Glossar mit grundlegenden Begriffsbestimmungen bietet das Buch einen umfassenden Informationsgehalt. Die Kapitel umfassen unter anderem Themen wie die Entwicklungsphasen junger Menschen, die Definition und mögliche Hinweise für das Erkennen von Transidentität, (alltags-) praktische Ratschläge zum Umgang mit betroffenen Kindern und Jugendlichen, den Dynamiken innerhalb von Familien sowie dem Umgang mit Schulen und anderen Institutionen. Abschließend werden Beratungsstrukturen sowie psychotherapeutische und medizinische Ansätze detailliert beschrieben. Neben sachlichen Informationen enthält das Buch zahlreiche Fallbeispiele und Erfahrungsberichte, die das Geschilderte anschaulich und nachvollziehbar machen und das Verständnis für das Thema vertiefen. Dadurch ist das Werk sowohl für Laien als auch für Fachkräfte eine wertvolle Einführung in ein hochkomplexes Themenfeld.
Ein zentrales Anliegen der Autor*innen ist die Benennung der Belastungen und Ängste, die viele Familiensysteme in dieser Situation erleben. Besonders eindrücklich beschreiben die Autorinnen, wie Eltern und nahe Bezugspersonen oft mit einer tiefen Trauer konfrontiert werden – sowohl durch den Verlust ihrer bisherigen Vorstellung vom Leben des Kindes als auch über die Notwendigkeit, lang gehegte Träume für den jungen Menschen loszulassen. Sie zeigen auf, wie Beratung und psychotherapeutische Unterstützung dabei helfen können, diesen Schmerz/diese Ängste wahrzunehmen und zu verarbeiten, indem die Bezugspersonen Raum für ihre Emotionen erhalten und gleichzeitig neue Perspektiven auf die Zukunft des jungen Menschen entwickeln können. Dieser Trauerprozess (bzw. Trauer- und Anpassungsprozess) wird einfühlsam analysiert und in den Kontext familiendynamischer Herausforderungen eingeordnet. Die Rolle von Angst, Unsicherheit und oftmals auch von Schuldgefühlen wird ebenso klar benannt, was Leser*innen dazu ermutigt, diese Emotionen nicht zu verdrängen, sondern als Teil eines natürlichen Verarbeitungsprozesses zu akzeptieren.
Gleichzeitig bieten die Autor*innen konkrete Strategien für den Umgang mit diesen Herausforderungen an. Sie betonen die Notwendigkeit, sich bewusst Zeit zu nehmen, tief durchzuatmen und Schritt für Schritt vorzugehen, statt in Aktionismus zu verfallen. Die Bedeutung eines liebevollen, stützenden Umfelds wird immer wieder hervorgehoben, ebenso wie die gezielte Förderung von Selbstwertgefühl und Eigenliebe (Selbstakzeptanz) bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Dabei gelingt es den Autor*innen, die Balance zwischen psychotherapeutischen Fachkenntnissen und praxisnahen Anleitungen zu wahren, sodass Leser*innen wertvolle Impulse für den Alltag mitnehmen können, ohne zu sehr in eine Überforderung aufgrund hoher Informationsdichte zu geraten.
Dieser Ratgeber richtet sich primär an Eltern, Bezugspersonen und Fachkräfte, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Er wirbt für Verständnis, Akzeptanz und die Möglichkeit eines positiven Umgangs mit Identitätsfragen in oft herausfordernden Lebensphasen.
Die Autor*innen Stephanie Brill und Rachel Pepper sind renommierte Expert*innen auf dem Gebiet der Transidentität bei Kindern und Jugendlichen und haben mit ihrem Buch "The Transgender Child" (Originaltitel) maßgeblich dazu beigetragen, Aufklärungsarbeit in diesem Bereich zu leisten. Stephanie Brill ist eine international anerkannte Autor*in und Berater*in, die sich insbesondere auf die Unterstützung von Familien mit transidenten und gender-nonkonformen Kindern spezialisiert hat. Als Gründer*in des "Gender Spectrum Education and Training"-Projekts hat sie umfassende Ressourcen entwickelt, die Eltern und Fachpersonen helfen, Geschlechtervielfalt besser zu verstehen. Rachel Pepper ist Autor*in, Therapeut*in und Dozent*in mit Schwerpunkt auf LGBTQ+-Themen. Sie hat umfangreiche Erfahrung in der Begleitung von Jugendlichen und Familien in sensiblen Lebensphasen.
Gemeinsam gelingt es den Autor*innen, ihre tiefgehende fachliche Expertise mit einem hohen Maß an Empathie zu verbinden. Ihre jahrzehntelange Erfahrung in der Begleitung von Familien und Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen ist in jeder Zeile spürbar. Durch ihre klare, zugleich feinfühlige Sprache schaffen sie es, Leser*innen auf einer sowohl intellektuellen als auch emotionalen Ebene zu erreichen. Dieses Buch ist ein wertvoller Beitrag zur Sensibilisierung für ein Thema, das gesellschaftlich noch immer von vielen Vorurteilen geprägt ist.
Autorinnen:
Stephanie Brill / Rachel Pepper
Übersetzung: Rita Kloosterziel
Ernst Reinhardt Verlag
3. völlig neu bearb. Auflage 2024
300 Seiten
ISBN: 978-3-49703148-1